München Marathon 2019 – Als ich den ersten Marathon eines Freundes lief
„Ich laufe einen Marathon!“ Mit dieser Maßgabe betrat ich vor fünf Jahren eine neue sportliche Welt. Voraus- gegangen waren für mich bereits etliche Jahre in einem Leistungssport und das Beenden von zwei Halbmarathons. Die Entscheidung fiel damals recht spontan und trotzdem habe ich sie nie bereut. Im Gegenteil: viele weitere Läufe folgten, inklusive meinem Debüt im Triathlon in diesem Jahr. Die Leidenschaft hatte mich gepackt. Und nach jedem Lauf, fast immer mit einem besseren Ergebnis als vorher, konnte ich die Bewunderung von Freunden erfahren. „Wow!“, „Klasse!“, „Sowas würde ich auch gern können / machen“ etc. Und fast immer war meine Antwort: „Grundsätzlich kann das jeder: mach!“.
Nun also überraschte mich einer meiner besten Freunde im Frühjahr mit „Ich laufe einen Marathon!“. Nach kleineren Erfahrungen mit kurzen Distanzen und einem Halbmarathon sowie Phasen von mehr und weniger Sport hatte er sich durchgerungen, diese Reise auch einmal zu erleben und zu durchleben. Ein Lauf war auch schnell gefunden, der München-Marathon am 13.10.2019 sollte es sein. In bester Absicht habe ich ihm natürlich gleich Trainingspläne zur Verfügung gestellt, Tipps und „versuch dies und schau mal danach“ mit auf den Weg gegeben.
Die Wochen gingen dann dahin, rechtzeitig vorher startete er mit seinem Trainingsplan – letztlich war es nicht einer meiner, sondern ein Trainingsplan mit der Maßgabe „für Anfänger“. Er zog also sein Program durch: kurze Läufe, lange Läufe, schnelle und langsame. Testete Kohlehydratgels, Schuhe, Kleidung, Equipment und alles Mögliche. Machte Testwettkämpfe im kleinen und mittleren Umfang. Gespannt und hilfsbereit erkundigte ich mich natürlich regelmäßig über seinen Stand, wohlwissend, dass es Sachen gibt, die man selbst testen muss und welche, bei denen Erfahrung – auch die anderer – wichtig ist.
Im Laufe des Septembers entstand dann für mich kurzfristig der Plan und die Gelegenheit, selbst am München-Marathon 2019 teilzunehmen. Ich hatte die Wahl zwischen einem verkürztem Trainingsplan für eine eigene Top-Zeit oder meinen Freund als Zugpferd und Motivator bei seinem ersten Marathon zu begleiten. Die Wahl fiel dann auf das Letztere. Obwohl ich den Sommer über zwar trainiert hatte, nicht jedoch spezifisch für einen Marathon, war ich mir sicher, auch so 42,195 km absolvieren zu können. Auf die leichte Schulter nahm ich den Wettkampf trotzdem nicht, ein paar lange Läufe und Intervalle nahm ich dennoch in Angriff. Der Rest musste über die Erfahrung gehen.
Der 13.10.2019 rückte nun immer näher. Am Vortag trafen wir uns in München. Routiniert ging es zur Marathon-Messe: Startnummer abholen, Starterbag mitnehmen, kurz mal durch die Verkaufsstände schlendern – alles wie immer. Zumindest für mich, denn während dies für mich bereits eine gewisse Routine darstellte, konnte ich meinem Freund ansehen, dass für ihn der nächste Schritt auf Neuland begonnen hatte. Es wirkt bei einem internationalen Marathon eben alles doch etwas größer als bei kleinen regionalen Laufveranstaltungen.
Zwischendurch gab es dann erst mal eine kleine hopfenhaltige Erfrischung, denn mein Freund hatte am Vortag des Marathons auch noch Geburtstag. Auch hier konnte ich ihn wieder beruhigen, dass ein Bier noch nicht über Leben und Sterben am nächsten Tag entscheiden wird. Und die obligatorische Aufnahme von Kohlehydrate – Reis – stand uns ja auch noch bevor.
Auch der weitere Abend verlief nach meinen gleichen, bereits vielfach angewandten Schemen: Laufsachen zurecht legen, alles noch mal checken, Wecker stellen, früh ins Bett.
13.10.2019 – 05:30 Uhr – aufstehen: nun also war es so weit, Raceday. Wollte mein Freund anfangs noch gar nichts oder „vielleicht einen Apfel“ frühstücken, denn das mache erst sonst auch immer so, konnte ich ihn immerhin von Brot mit Honig überzeugen. Leicht verdaulich und immerhin soviel, dass man nicht bis in den späten Nachmittag hinein völlig ohne Essen da steht. Den Verdauungskaffee lehnt er schon wieder ab.
Rechtzeitig machten wir uns auf den Weg, sodass genug Zeit zur Akklimatisierung blieb. Auch über eine Stunde vor dem Start war das Veranstaltungsgelände bereits gut besucht. Die Organisatoren taten wie immer ihr Bestes, um mit satten Beats und flotten Sprüchen die Läufer zu motivieren und zu pushen. Während sich in mir langsam ein Geil-bald-geht-es-los-Gefühl breit machte, konnte ich meinem Freund die von Minute zu Minute steigende Nervosität im Gesicht ablesen. Verständlich, wenn man das erste Mal in einer Masse von über 4.000 Läufern steht und vier Stunden Laufen vor sich hat.
Dann war es soweit: 10:00 Uhr Startschuss Startblock A, 10:05 Uhr Startschuss Startblock B – um 10:10 Uhr durfte unser Startblock bis zur Startlinie aufrücken. Countdown, die Menge zählt herunter, Arm hoch zum Uhr starten, Peng, los laufen! Im Gedränge der Menge mussten wir uns erst einmal zu recht finden. Für mich bislang alles wie immer, für meinen Freund erneut Neuland. Wie ich vorab mit ihm besprochen hatte galt es, am Anfang erst mal rein zu kommen und danach nicht zu schnell anzugehen. Als Orientierung sollte uns da- bei der Zugläufer für unter 4 Std. dienen.
Hatten wir nach KM 3 nun das erste Hauen und Stechen hinter uns, so waren wir bei KM 6 im Pulk der 4- Stunden-Läufer. Soweit also alles gut. Ein erster Alles-Roger-Blick zu meinem Freund wurde auch prompt mit „Yes“ beantwortet. Läuft also.
Bei KM 8 waren wir dann unbewusst vor den Zugläufern. Ein gutes Zeichen oder sollte sich das rächen? Es war noch zu früh im Rennen, um das zu beurteilen, dachte ich mir. Abwarten.
Der Marathon lief so dahin. Immer wieder linste ich zu meinem Freund, um einzuschätzen, wie er drauf ist. Zumindest optisch machte er einen gute Eindruck, zwischenzeitlich hatte er seine Kopfhörer aufgesetzt. „Nichts mit unterhalten“, dachte ich mir, aber solange es ihm für seine Premiere hilft, sei es drum. Ich konnte für meinen Teil den Tag auch für mich alleine genießen.
Bei KM 14 ging es dann in den Englischen Garten. Die Parkanlage lud dazu ein, die Gedanken schweifen zulassen. Hier und da standen Zuschauer am Rande, ein mancher nutzte das schöne Wetter auch zum Ver- weilen. Mein regelmäßiger Check der Zeiten errechnete eine Zielzeit von deutlich unter vier Stunden, aber es lag auch noch einiges vor uns.
Zum Ausgang des Englischen Garten war dann die Hälfte erreicht, für mich stets eine mentale Hürde: „Alles vor dir ist weniger als das, was schon hinter dir liegt!“. Ich blickte zu meinem Freund, angedacht war, zur Halbzeit die Geschwindigkeit zu erhöhen, sofern möglich. Er winkte hierzu jedoch gleich ab. „Oh oh“ dachte mich noch, waren wir etwa doch zu euphorisch?
Ab KM 24 wurden wir merklich langsamer, eine Laufuhr lügt hierbei eben nicht. Das signalisierte ich auch meinem Freund, der mir das auch gleich bestätigte. Sein Es-ist-hart-Gesichtsausdruck sprach Bände. Da ich regelmäßig auch nach hinten schaute, wo die offiziellen Zugläufer für unter vier Stunden sind und ich diese immer um ca. 30 Sekunden hinter uns ausmachen konnte, schlug ich meinem Freund vor, dass wir uns wieder an diese Masse ran hängen, sobald sie uns passiert hat.
Bei KM 27 war es dann auch soweit. Die Zugläufer inklusive 4-Stunden-Masse fing uns wieder ein. Das Dranhängen fiel jedoch kurz aus, da mein Freund die Pace nicht mehr hoch fahren konnte.
Kurz vor KM 29 ging es dann in die erste lange Pause. Mein Freund nutzte den kompletten Verpflegungsstand, um aufzutanken und zu regenerieren. Spätestens jetzt musste ich motivieren: „kein Stress“, „trink nicht zu viel“, „nutz die Gels“ etc. Geografisch waren wir an dem Punkt, der am weitesten vom Ziel entfernt war, es ging als nur noch zurück.
Das viele Wasser trinken machte sich bei mir bemerkbar und ich bog kurz ab. Mein Freund lief weiter, dass ich ihn wieder einhole war nur Formsache. Die kurze Tempoerhöhung machte mir Spaß, war aber nach zehn Sekunden wieder vorbei. Schade.
Schließlich war es dann kurz nach KM 30 passiert: mein Freund musste zum ersten Mal eine kurze Strecke gehen. Hatte er im Training stets früh trainiert, war ihm der relativ warme Oktobertag – es hatte mittlerweile ca. 23 Grad – zu viel. Auch hier versuchte ich, ihn wieder aufzubauen und zu motivieren, es lägen jetzt nur noch zwölf Kilometer vor uns und auch andere um uns herum lassen langsam nach. Sein sicherlich gut gemeintes Angebot, ich könne auch alleine weiter laufen, schlug ich aus, da ich merkte, dass er ohne mich vermutlich komplett eingebrochen wäre: „Wir ziehen das jetzt zusammen durch!“.
Nach dem Wiederanlaufen zogen sich die Kilometer, aber wir blieben konstant beim Laufen. Mein Freund schleppte sich nun von Verpflegungsstand zu Verpflegungsstand, nutzte die ganze Länge aus, um mehrfach Becher zu fassen und kurz zu regenerieren. Soweit erst mal alles so gut. Ich nutzte indes die Zeit, um ein Pläuschchen mit der letzten Läuferin einer Staffel zu halten.
Wir erreichten den Viktualienmarkt, den Marienplatz – KM 35 – und passierten den Odeonsplatz. „Es ist nur noch Kopfsache“ rief ich meinem Freund zu. „Ab hier kennst du die Strecke, zerteil sie dir im Kopf.“ Ob er das noch verarbeiten konnte, was ich ihm sagte?
Bei KM 37 merkte ich, dass mir Zuschauer das Fehl am Platz sein anmerken. Einer rief mir sogar „Du bist doch noch fit, zieh die anderen mit“ zu. War aber leider gar nicht so leicht, da mein Fokus ja nicht auf der Masse, sondern meinem Kumpel lag. Der hatte indes nur noch fünf Kilometer vor sich.
Bei KM 38 begann die Weißbiermeile: Ein Verpflegungsstand, der alkoholfreies Weizen ausgab. Ich griff mir natürlich einen Becher und nahm zwei Schluck. Den Rest hielt ich meinem Freund hin, der mit einem Ich- will-Wasser-aber-ich-brauch-Flüssigkeit-Blick trank. Ich baute ihn erneut damit auf, dass es ab jetzt nur noch im Kopf entschieden wird und es bald vorbei sei. Gelegentliche Gehpausen kamen wieder hinzu. Ich hatte mittlerweile das gefühlt 50. Schild „Press here for Power up“ abgeklatscht, fand den Spruch aber immer noch gut.
Kurz nach KM 39 passierte uns dann die Gruppe der 4:15-Std.-Läufer. Ich raunte meinem Freund ein „die sind etwas schneller als die Zielzeit“ zu. Ein Smalltalk mit einer Läuferin auf diese Zielzeit lenkte mich kurz ab und ließ mich unbewusst schneller werden. Ich ließ mich gleich darauf wieder zu meinem Freund zurück fallen.
Meine Uhr zeigte bei KM 40 bereits einen Kilometer mehr an. Ich fragte meinen Freund, was seine Uhr anzeigte, merkte aber, dass seine Kraft und Gedanken mit solch einer Frage überhaupt nicht mehr zu Recht kamen. „Durchhalten“ rief ich ihm zu. Mittlerweile wurden auch die Zuschauer am Rand wieder mehr und ich hoffte, dass ihn dies noch mal pusht.
Kurz vor KM 41 riet ich meinem Freund, jetzt die letzte Gehpause zumachen, wenn er eine braucht. Danach ginge es in die Stadionanlage und ins Stadion, d. h. ab hier verbot es der Stolz, zu gehen. Er nutzte die Ansage auch prompt für ein paar langsame Meter. Kurz vor dem Eingang ins Olympiastadion musste er aber trotzdem noch mal kurz vom Laufen in den Gang wechseln.
Wir durchliefen das Tor ins Stadion. Blitzlichter und laute Musik animierten die Läufer noch mal, alles zu geben. Ich rief meinem Freund wie am Start zu, immer zu lächeln, da an jeder Ecke Fotos gemacht wurden. „All out“ war dann beim Betreten der Tartanbahn die Devise und er wurde sofort schneller. Glücklicherweise formierten sich alle Staffeln vor dem Stadion und liefen zusammen die abschließende Dreiviertelrunde im Olympiastadion, sodass wir in sichtbarem Abstand immer wieder jemanden zum heran laufen und überholen hatten. Mein Freund ging den Schlussspurt beherzt mit, ich ließ ihn aber nicht aus den Augen für den schlimmsten Fall, dass er mir zusammen klappt.
Letzte Kurve, die Musik dröhnt, das Stadion ist voll und das Ziel vor Augen – wir gaben alles. 4:15,46 Std. zeigte die Uhr schließlich an, als wir die Ziellinie überquerten. Arme hoch, Uhr stoppen – finish. Ich klatschte meinen Freund ab, der nun sichtlich am Ende seiner Kräfte war. Ich schlang den Arm um ihn und stützte ihn bis zum Ausgang. Zwei nette Mädels hängten sodann uns unsere wohlverdienten Finishermedaillen um. Erschöpft fiel mein Freund auf den Rasen, mein zwischenzeitlich besorgtes alkoholfreies Weizen genoss er in vollen Zügen.
Der Rasen des Olympiastadions war übersät mit Läufern, manche mehr, manche weniger erschöpft. Glücklich sahen aber alle aus. Die Stimmung ist festivalähnlich, auch hier versuchten die Organisatoren, mit mitreißender Musik die Menge zu animieren. Es gelang, wie ich finde. Mein Freund und ich genoßen noch eine Zeit lang die Stimmung und regenerierten mit den vorhandenen Erfrischungsmöglichkeiten. Natürlich blieben auch die ersten Analysen nicht aus: es war warm, meint mein Freund, vielleicht war der Tag auch nicht seiner gewesen, es war eine Grenzerfahrung gewesen und er respektiere meine Zeiten und Leistungen nun noch mehr. Glücklich war er mit sich und seinem Ergebnis trotzdem, denn es böte ihm noch Luft zur Verbesserung, und ich bestätigte ihm, dass er schneller war als jeder, der noch nie einen Marathon gelaufen ist.
Euphorisch – jeder auf seine Weise – verließen wir das Veranstaltungsgelände und ich hoffe, dass es nicht sein einziger Ausflug in diese – meine – Welt gewesen ist.
Matthias Benkert